Artikel: Einer flog über das Krokosnest [ Kolumne ]
12.10.2005  |   Klicks: 4570   |   Kommentare: 13   |   Autor: kroko
Einer flog über das Krokosnest
Der abgeschlossene Irrenarzt-Roman. Um Dich herum nur mit Drogen vollgedröhnte Chat-Junkies, sabbernde Idioten und brutale Security. Schneckenhof oder Klapse? So groß ist der Unterschied gar nicht. "Mein Gott, kroko", stöhnte Dr. Dr. Dr. Stäff, "kannst Du nicht mal 'ne Kolumne schreiben wie jeder andere auch?"

Die Welt erschließt sich uns in unseren Sinnen: Sehen und Hören, Fühlen, Riechen und Schmecken.
Schrecklich mutet uns der Verlust einer dieser Fähigkeiten an.
Wer, der je Farben sah, hätte nicht unerträgliche Angst vor Blindheit?
Das Internet eröffnet uns neue Sinneswahrnehmungen:
Chatten, Googeln, Surfen.
Jemanden das Internet zu nehmen, der es erfahren durfte, heißt: Ihm ein Sinnesorgan herausreißen.




KAPITEL I "NATURAL FAT KILLERS"

Sie ist eine Frau, nach der sich die Leute auf der Straße umdrehen, von ausgesuchter Hässlichkeit, und der voluminösen Grazie eines gestrandeten Wals. Seit neustem trägt sie eine Augenklappe.
Jetzt steht sie vor dem Schaufenster des Internetcafés und starrt mich mit ihrem verbliebenen Auge durch die Scheibe hindurch an.
Ich sollte mich geschmeichelt fühlen, denn sie will mich. Hasserfüllt versucht sie ihre Körpermassen durch die schmale Tür des Internetcafés zu pressen, im Schlepptau zwei Pfleger, die die Zwangsjacke für mich schon bereithalten.
Sie schnauft und prustet, die Pfleger schieben und drücken, was das Zeug hält, aber sie passt einfach nicht durch die Eingangstür.
Schließlich nimmt sie den direkten Weg und walzt mitten durch die große Schaufensterscheibe. Glas splittert, der Boden bebt, die Gäste des Cafés ergreifen die Flucht.
Mich jedoch kann die schrille reale Welt in meinem virtuellen Autismus nicht stören. Seelenruhig chatte ich weiter und tippe: "SM ist da, sie sieht aus als würde sie gleich jemanden töten – womöglich mich?"


KAPITEL II "SM"

Von ihrem Namen weiß ich nur, dass er mit einem M beginnt. Auf Station Eins, auf der sie Oberschwester war, nannten wir sie alle nur "Schwester M." oder kurz "SM".
Am Tag vor der Szene in dem Internetcafé lag sie noch vor mir. Wild erregt schrie sie meinen nickname: "Kroko! Kroko, ich bring Dich um."
Gut, dass ich sie festgeschnallt hatte.
Ihr hysterisches Rumgebrülle begann mir tierisch auf den Senkel zu gehen. Darum musste ich ihr ihren stinkigen Tennissocken ausziehen und ihn in ihr kreischendes Maul stopfen.
Dann nahm ich den Löffel von dem am Boden liegenden Essenstablett, wischte ihn kurz an ihrem Schwesternkittel sauber und begann mit dem für beide Seiten unangenehmen Teil.
"Das könnte jetzt etwas wehtun", sagte ich, und der Tisch auf dem sie festgeschnallt war vibrierte unter den aufbäumenden Befreiungsversuchungen ihrer unförmigen Fettmassen. Tapfer begann ich mit dem Löffel ihren Augapfel aus der Augenhöhle zu pulen.
Spaß machte das keinen! Aber es musste sein.


KAPITEL III "VENEZUELA"

"Ich bin nicht verrückt."

"Nein, nein – natürlich nicht", sagt Dr. Stäff in dem Tonfall, in dem man mit Verrückten spricht.

"Ich bin entführt worden! Eines Tages als ich auf dem Weg zur Arbeit war, hielt ein Mercedes Sprinter neben mir, ein paar stiernackige Typen sprangen raus, überwältigten mich und schlugen mich nieder. Als ich aufwachte war ich hier."

"Das ist Deine Version, kroko. Die Wahrheit ist aber, dass Du immer mehr in der Internetsucht versumpft, nicht mehr zur Arbeit gegangen bist, nicht mehr das Haus verlassen und den Job verloren hast, vom Vermieter auf die Straße gesetzt wurdest, in Hartz IV abgerutscht und schließlich hier gelandet bist. Kurz gesagt: durchgeknallt und weggesperrt."

"Ich für meinen Teil würde sagen: Du hast mich kidnappen lassen, Stäff."

"Beweise? Beweise? Laut meinen Unterlagen bist Du 5 Wochen einfach nicht zur Arbeit erschienen ..."

"Wie soll ich auch, wenn ich hier von Dir festgehalten werde, Stäff?"

"Wir sind eine offizielle Suchtklinik für Internetkranke. Und Du bist unser Patient. Und bitte: Dr. Dr. Dr. Stäff, soviel Zeit muss sein."

"Ja klar. Wo hast Du denn bitte drei Doktortitel her? In Brasilien gekauft?"

"Venezuela. Und warum so vorwurfsvoll? Warum soll ein von schwer verdientem Geld gekaufter Doktortitel schlechter sein als einer, der durch sinnlose Promotion erbracht wurde, über irgendein Thema, das sowieso keinem weiterhilft. Und drei Titel gab's schon für den Preis von zweien."

"Ich versteh nur noch Venezuela. Suchtklinik? Sag mal, hattest Du nicht genug damit zu tun, schlechte Internetseiten zu fabrizieren?"

"Kroko, kroko. Auch eine Klinik zu leiten ist nur ein Geschäft wie jedes andere. Meine Internetseiten laufen fabelhaft. Aber Dein geliebtes Schneckenhof.de geht leider den Bach runter, seit das halbe Personal der Seite bei mir einsitzt."

"Wer denn noch?" frage ich entsetzt.

"Im Frauentrakt zum Beispiel sitzen genug alte Bekannte von Dir, hehe. Und die übrig gebliebenen Admins hol ich mir auch noch irgendwann."

"Jetzt kapier ich das, Stäff. Du hast diese Klinik nur aufgebaut um uns hier einzubuchten. Um schneckenhof.de kaputt zu machen. Deine Konkurrenz zu zerstören."

"Kroko, du bist paranoid. Ich will Euch doch nur helfen."

"Einen Scheiß willst Du!", brülle ich außer mir, "ich bin nicht verrückt! Wenn hier einer behandelt werden muss, dann Du!"

"Ok. Ich lass Dich jetzt mal mit Schwester M. alleine." sagt Stäff bedrohlich leise.

"Nein, Stäff, nicht das! Ich meine: Dr. Dr. Dr. Stäff. Du hast ja recht, ich bin verrückt! Komm zurück! Stäff. Dr., Dr., Dr. Stäff, Stääääääääääff..."


KAPITEL IV "BULLRIDING"

Es gibt ein paar einfache Regeln in der Ersten Mannheimer Suchtklinik für Internetkranke, die dazu dienen, das Leben auf einem erträglichen Maß der Unerträglichkeit zu halten.
1. Sprich als Patient nicht andere Patienten mit Ihrem nickname an.
2. Übe nie Kritik an Klinikleiter Dr. Dr. Dr. Stäff
3. Schluck brav dreimal täglich Deine Beruhigungspillen-Drogenration.
Im Falle eines Regelverstoßes lernst Du die finsteren, ungemütlichen Seiten von Schwester M. kennen. Die Seiten an ihr, auf die, in ewiger Dunkelheit verharrend, nie ein Sonnenstrahl der Barmherzigkeit fiel.
Wenn Schwester M. (SM) mal schlechte Laune hatte konnte sie allerdings auch ohne Regelverstoß ungemütlich werden. Und schlechte Laune hatte sie eigentlich immer.
Erst mit Beginn der Elektroschocksitzung begann sich in ihren Augen so etwas wie ausgelassene Heiterkeit zu spiegeln.

Mich hatte sie besonders in ihr kaltes Herz geschlossen und brachte die Elektroden nicht nur an den Schläfen, sondern auch an empfindsameren Weichteilen an.
"Klötenschocktherapie" rief sie dann begeistert, wenn sie den Stromstärkeregler über das erlaubte Maximum hinaus überdrehte.
Und: "Hey, ho, Bullriding, kroko!"
Stell Dir vor, dass Dir jemand mit spitzen Stöckelschuhen und einer Frequenz von 120 Tritten pro Minuten in die Eier kloppt. Nimm dieses Gefühl mal Hunderttausend und Du hast annährend eine Vorstellung davon, was eine halbe Stunde "Therapie" mit Schwester M bedeutete.
Meist gab sie mir auch einen Tag vor der Elektrobehandlung keine Beruhigungspillen mehr. "Damit Du auch alles richtig schön miterleben kannst, kroko."


KAPITEL V "DER MANN MIT DEM PLAN"

Die einzige Abwechslung im trüben Klinikalltag war die Kommunikation mit dem Frauentrakt. Wir chatteten durch Schlagen an die Heizungsrohre, die ohne Unterbrechung von der Männerabteilung bis in die Frauenstation liefen.
Via Morsealphabet, zum Beispiel: "Kurz Lang Kurz Kurz Lang Lang Lang Kurz Lang Kurz Kurz", das hieß "LOL"

Eines Tages empfing ich eine Nachricht über den Heizungsrohrchat.
"Kroko: haben einen unserer sh-leute ins klinikpersonal einschleusen können, wird nach der nächsten therapie deine fesseln lösen"
Gezeichnet war die Nachricht mit "Kurz Kurz Lang Lang Lang Lang" für Doppelpunkt – Strich – O
Doppelpunkt – Strich – O stand für besonders vertrauenswürdige Nachrichten.

Nach jeder Elektroschocktherapie lag man anschließend mehrere Stunden festgeschnallt im Ruheraum, um die Nachwirkungen langsam abklingen zu lassen.
Ich versuchte gegen die Schmerzen anzukämpfen und einen Fluchtplan zu entwickeln.
Aber wie sollte ich entkommen?
Die ganze Klinik war biometrisch gesichert. Es gab keine Schlüssel. Alle Türen, von der stabilen Stationstür, bis zur letzten Außentür in die Freiheit, unten an der Straße, öffneten sich nur durch Scannen der Augen des Klinikpersonals.
Die Lösung lag zum Greifen nahe.


KAPITEL VI "DIE MÜLLERIN"

Das Klopfen der Heizungsrohre weckte mich aus meinem Dämmerzustand
"fesseln gelöst", klopfte es.
Und Heizungsrohre lügen nicht. Die Gurte, die mich auf der Liege fixieren sollten, waren locker.
Ich wartete.
Als SM den Raum betrat um mir Essen zu bringen, nutze ich das Überraschungsmoment, sprang auf, entriss ihr das Essenstablett und schlug ihr damit energisch auf den Hinterkopf. Leider ohne Erfolg. Sie grunzte vor Wut und warf sich mit ihrem vollem Körpergewicht gegen mich und drückte mich zurück auf die Liege. Mir blieb die Luft weg. Wie eine Dampfwalze presste sie mir die Eingeweide zusammen.
Ich hatte keine Chance.
Eher reflexartig zog ich die Beine an und stieß mich mit voller Kraft von der Wand ab, an der die Liege stand.
Die auf Rollen angebrachte Liege begann zu kippen und unsere zusammen 250 Kilogramm Lebendgewicht schlugen zu Boden. Bevor sich SM erholen konnte, schaffte ich es sie ruhig zu stellen, indem ich bis zur Erschöpfung diverses Mobiliar auf ihr zertrümmerte.
Ich nutzte die kurze Zeit ihrer Bewusstlosigkeit, wuchtete sie auf die Liege und schnallte sie fest.
Als sie wieder zu sich kam begann sie mir zu drohen und zu kreischen und ich musste sie mit ihrem eigenen Tennissocken knebeln.
Dann griff ich zum Löffel und bahnte mir den einzig möglichen Weg in die Freiheit.

Es ist gar nicht so leicht, ein Auge aus seiner Höhle herauszuholen. Der geneigte Leser, der das gerne mal selbst ausprobieren will, kann das ja in der Mensa versuchen, wenn es das nächste Mal Forelle Müllerin gibt – die mit den mitgebratenen toten Augen.
Ich stellte mich vor die erste Sicherheitstür und streckte der Kamera das blutige Auge entgegen. Es funktionierte! Surrend öffnete sich die Stationstür.
Drei Türen hatte ich noch zu überwinden. Ich musste mich beeilen.
Auf meinem Fluchtweg kam ich auch an der Stationstür zum Frauentrakt vorbei. Hinter dem dicken Sicherheits-Plexiglas standen beam, bolle und miniwolf, und eine malte mit Spucke ein großes LOL an die Scheibe.
Wie gern hätte ich sie befreit. Aber es wäre unklug gewesen, jetzt damit Zeit zu verschwenden. Ich musste entkommen und die Welt über Stäffs Machenschaften aufklären, die unsäglichen Grausamkeiten die hinter den verschlossenen Türen der ersten Mannheimer Suchtklinik vor sich gingen.
Und mir gelang die Flucht.
Jedenfalls fürs Erste.

Vielleicht – vielleicht war es ja doch etwas unklug nicht sofort die Stadt zu verlassen.
Vielleicht war es unklug das erstbeste Internetcafé aufzusuchen und mich in Anstaltskleidung, blutverschmiert auf schneckenhof.de einzuloggen.
Vielleicht war doch was dran an der Diagnose "Internetsucht".
Aber ich hatte so lange keinen Rechner mehr gesehen, ich war so lange nicht mehr on, ich musste es einfach tun. Chatten.

Ich chattete, bis SM mit den zwei Pflegern durch das Fenster brach und ich vom Rechner weggezerrt wurde. Ich konnte grade noch "wink ... muss mal wieder" tippen, bevor sie wieder zu Ende war, die große Freiheit.


KAPITEL VII "HOMMAGE AN DR. DR. DR. STÄFF"

Nach einer sehr, sehr, sehr langen Therapiesitzung mit Schwester M. wache ich im Ruheraum auf. Fixiert und festgeschnallt.
Dr. Dr. Dr. Stäff sitzt mir gegenüber.
"Kroko, kroko." sagt Stäff, "Du kommst hier nie wieder weg."
Ich bin zu schwach um zu antworten.
"Aber Du hast mich auf eine schöne Idee gebracht", schwadroniert Stäff. "Organhandel! Es gibt so viele reiche Menschen, die bereit wären alles für ein Spenderorgan zu zahlen. Ich mache jetzt in Organhandel, kroko."
"Illegaler Organhandel." stöhne ich gegen das Dröhnen in allen Gliedmaßen.
"Ach – illegal – was ist das schon für ein Wort. Du bist kleinkariert, kroko. Alles ist Geschäft. Alles ist Angebot und Nachfrage. Kommerz dreht die Welt. Wenn man zahlt kriegt man immer bessere Leistungen."
"Wenn alles wofür man zahlt besser ist, warum hältst Du Dir dann eine Freundin und gehst nicht einfach in den Puff?"
"Kroko, kroko. Für ein Organersatzteillager reißt Du die Klappe ziemlich weit auf."

Klopf – Klopf – Klopf.
"Ist die Heizung kaputt?", murmelt Dr. Dr. Dr. Stäff verärgert.

Die Heizung! Sie morst mir zu: "fesseln ... lose"
Ich übe etwas Gegendruck auf die Ledergurte aus. Tatsächlich, sie sind wieder durchgeschnitten.
Auf dem Nachttisch steht ein Essenstablett mit einem Löffel.
"Wieso starrst Du mich so seltsam an", fragt Dr. Dr. Dr. Stäff lachend.
Und kurz bevor ich aufspringe antworte ich: "Womöglich weil Du so schöne grüne Augen hast."
Forelle Müllerin
 
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13 Kommentare zu diesem Artikel
12.10.05, 10:17 Uhr #1 von Tinchen78
12.10.05, 10:19 Uhr #2 von Schleifi
forelle müllerin :
aber:wer von den dreien malt denn das LOL??

kroko, einfach traumhaft
Dieser Eintrag wurde 1 mal editiert, zuletzt 12.10.05, 10:19 Uhr
12.10.05, 10:26 Uhr #3 von Olle
grosspapa ich liebe dich
Dieser Eintrag wurde 1 mal editiert, zuletzt 12.10.05, 10:26 Uhr
12.10.05, 12:08 Uhr #4 von blackwidow

RESPEKT
MEIN LIEBER
HERR GESANGSVEREIN
12.10.05, 13:27 Uhr #5 von Schnulli
ahhsk is einfach
12.10.05, 15:20 Uhr #6 von wolf

kroko
ich glaub, das war das geilste, was ich seit laaaaanger zeit gelesen habe!!
v.a. die fette sm wird mir für immer im gedächtnis bleiben
du bisch hald doch der bäschde!
LOL
ach ja:
Dieser Eintrag wurde 2 mal editiert, zuletzt 12.10.05, 15:20 Uhr
12.10.05, 16:50 Uhr #7 von mbu1201
my dear mr singing club
muahaha haben wir nicht alle angst vom bösen onkel doktor?
12.10.05, 17:11 Uhr #8 von DonOx

mein respekt

sehr geil !
12.10.05, 19:40 Uhr #9 von steff
endlich ist sie da, meine eigene kolumne, juhu
danke kroko
13.10.05, 17:56 Uhr #10 von SodaF
Fehlt nur der Spruch: Ähnlichkeiten mit in der Realität vorkommenden Personen ist absolut gewollt
btw: wer ist die Vorlage für "SM"?
23.10.05, 06:53 Uhr #11 von N3KrOpHiL
geil kroks
16.11.05, 23:12 Uhr #12 von tinkerbell1980
du wolltest es doch so....

du machst misch ganz karrüssäll in meine köpf krököööö...



und was ist mit meinen Handschellen am Bauchnabel? Wann werden die gelöst?
21.01.07, 13:13 Uhr #13 von Olle
ich liebe die kolumne immer noch die bester aller zeiten
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