Artikel: Der mit dem Zug tanzt…[ Kolumne ]
08.12.2006  |   Klicks: 3750   |   Kommentare: 18   |   Autor: Selbstfinder
Der mit dem Zug tanzt…
Heutzutage ist es nichts Ungewöhnliches mehr, wenn der Arbeitsort eines Menschen nicht identisch mit dem Wohnort ist. In diesem Zusammenhang fallen dann in der Regel Schlagwörter wie „Flexibilität“ oder auch „Mobilität“. Die Folge dieser Tatsache ist, dass eine ganz spezielle Menschengruppe daraus entstanden ist. Ihr Name: Pendler. Von außen betrachtet ganz normale Menschen, die eben relativ viel Zeit im Auto oder, wie in meinem Fall, im Zug verbringen. Was die wenigstens aber wissen: Da draußen herrscht Krieg…
Das Abenteuer eines Pendlers beginnt meistens schon sehr früh am Morgen. Da zu der Arbeitszeit eine längere Reisezeit kommt, klingelt der Wecker schon sehr zeitig. Nachdem man also mit einem gekonnten Wurf den Radiowecker mit dem linken Hausschuh außer Gefecht gesetzt hat oder die Fernbedienung zerlegt hat, weil man meinte, das wäre der nervende Handywecker, fängt es langsam an zu dämmern: Bald geht’s wieder los. Die bekannten Gesichter, dasselbe Spiel. Und das Spielfeld ist in diesem Fall der Bahnsteig am Mannheimer Hauptbahnhof. Man macht sich also langsam fertig und versucht halbwegs wach zu werden, um einen klaren Kopf zu haben. Der Weg zum Bahnhof selbst gestaltet sich als sehr ruhig und angenehm. Die Schüler schlafen ohnehin noch, die Studenten sind vielleicht grad auf dem Heimweg (oder vorm City-Döner) und ansonsten hat die morgendliche Rush Hour noch nicht begonnen. Doch bei der Ankunft am Bahnhof merkt man schon deutlich einen Umschwung in der Stimmung, die in der Luft liegt.

Da der Mensch ein Gewohnheitstier ist, stellen sich die meisten Leute immer an dieselbe Stelle des Bahnsteigs. Sie wissen, wenn der Zug gehalten hat, ist hier eine Tür. Und in diese möchten sie so früh wie möglich rein, koste es was es wolle, um einen begehrten Sitzplatz zu ergattern. Ist man selbst dann auch an der gewohnten Stelle angelangt, kennt man die Gesichter um sich herum. Das geht nach einer Zeit sogar so weit, dass man sofort weiß, wenn jemand fehlt. Jedenfalls… man kennt die Gesichter, man grüßt sich zwar nicht (denn man kann sich nicht leiden), aber man kennt sich.

Zusammengepfercht wie Herden, je eine Herde an jeder Stelle, wo eine Tür sein wird, stehen also alle Pendler am Bahnsteig und erwarten die Einfahrt des Zuges. Und sobald der Zug angesagt wird, geht’s los. Man spürt förmlich, wie die Menschen nervös werden und herumtänzeln, immer von einem Fuß auf den anderen. Da die Herde unbewusst, und warum auch immer, sich mehr und mehr zusammenzieht, „dotzen“ die ersten Pendler auch recht schnell aneinander. Man konzentriert sich allerdings nur noch auf die Tür und so wird das ganze wohlwollend ignoriert. Mehr noch, die richtig gewitzten versuchen sogar aus diesen Dotzern einen Positionsvorteil zu erwirken. Wenn man zu diesem Zeitpunkt nicht schon in der Herde drinsteckt, ist die Wahrscheinlichkeit einen Sitzplatz zu ergattern quasi nicht existent. Menschen (meist unwissende), die trotzdem noch versuchen nachträglich in diesen mittlerweile verwobenen Haufen Ignoranz einzudringen, werden sofort als Feind und/oder Nicht-Pendler identifiziert und gnadenlos abgewehrt. Doch dies ist erst das Vorspiel. Der Zug fährt ein….

…und die Türen öffnen sich. Und genau dann ist das Gefahrenpotential am höchsten. Warum Gefahrenpotential? Weil unberechenbar. Wenn man davon absieht, dass man bis zu diesem Zeitpunkt mindestens schon drei Ellenbogen verpasst bekommen hat, weiss man nie, an welcher Tür die wenigsten Menschen aussteigen werden oder vielleicht eine ältere Dame mit drei Pudeln und zwölf Koffern die Tür verstopft. Passiert so etwas, ist es mit dem Sitzplatz im Grunde schon vorbei. Das ist auch der wahre Grund, warum die Pendler immer so nervös werden, es gibt in diesem „Prozess“ einfach keine Routine. Selbst die beste Ausgangsposition am Bahnsteig kann, wenn die Türen sich öffnen, zur tödlichen Falle werden. Genau aus diesem Grund wird mit harten Bandagen gespielt, und es ist dabei egal, ob es sich um Frau mit Kind oder um einen Zwei-Meter-Schlipsträger handelt, von dem man, aufgrund seiner gepflegten Erscheinung, wenigstens ein Mindestmaß an Manieren erwarten könnte.

Schlussendlich landet man, wenn man keine Lust auf diesen Wahnsinn hat und sich das ganze von „außen“ genüsslich ansieht, auf dem Boden an der Tür. In diesem Spiel siegt nun mal, wer am Unverschämtesten vorgeht. Lässt man einer Frau mit Kind an der Tür den Vortritt, kann man sich sicher sein, dass sich noch mindestens zwei Pendler ebenso durchdrängeln und diese kleine Lücke ausnutzen. Man sitzt also auf dem Boden, ärgert sich tierisch über „die Pendler“ (zu denen man selber gehört) und weiß ganz genau, dass man Abends auf der Rückfahrt wieder die selben Gesichter an der selben Stelle sehen wird, das selbe Spiel spielend.
 
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18 Kommentare zu diesem Artikel
08.12.06, 23:08 Uhr #1 von Sonnenschutz
Deshalb fahr ich so gerne OEG. Die braucht zwar länger als die S-Bahn, dafür kann ich auch länger schlafen...
08.12.06, 23:25 Uhr #2 von snowgirl
oh ja..wie ich das kenne..zwar nur in der straßenbahn...aber es ist genau das selbe Frechheit siegt am ende
09.12.06, 12:30 Uhr #3 von roka
Ähnliches spielt sich morgens auch in Neulußheim ab. Da ich aber unterschiedliche Zeiten habe morgens, ändern sich die Leute auch. Aber inzwischen ist mir wohl bewusst: "Das sind Montags-Menschen" oder "Nanu? Die fahren doch sonst nur Dienstags?!" und vorallem: "Haha! Die haben verschlafen, die sehen zumindest so aus und fahren 'sonst immer' früher!"
11.12.06, 09:38 Uhr #4 von kenny183
ich bin im frühjahr auch 'gependelt'. im halbschlaf morgens um sechs abfahrt. um sieben wurde der zug von kreischenden schülern invasiert. oh mann, wie nervig.
11.12.06, 17:11 Uhr #5 von no_idea
@kinder
owei wenn ich da an meine alte berufsschulzeit denke

ein bahnabschnitt war mit soner pendel-gammel-bahn -> invasion ist kein ausdruck. wenn du das auch auf der rückfahrt hast, haste das gefühl vor kopfschmerzen zu sterben
12.12.06, 02:07 Uhr #6 von winnipuuh
Gut geschrieben, finden auch einige Freunde des Rhein-Neckar-Nahverkehrs...
12.12.06, 11:44 Uhr #7 von Selbstfinder
Heute Morgen war es wieder so weit: Eine Tür ging nicht auf. Man man man, die aufgescheuchten Hühner hättet ihr euch ansehen müssen, ein Traum sag ich euch
12.12.06, 12:05 Uhr #8 von Pfalzgraf
Fast volle Zustimmung!
Morgens 6.16Uhr ICE Mannheim-Frankfurt!
Gut das diese Zeit vorbei ist da ich jetzt einen Job in Lu habe. Habe allerdings einige nette Leute getroffen mit denen man fast täglich zusammengesessen hat.
12.12.06, 12:09 Uhr #9 von Selbstfinder
Das Vergnügen hatte ich leider noch nicht, fahr die gleiche Strecke
12.12.06, 18:50 Uhr #10 von Philipp-
Was Menschen nter 1,85 immer für probleme haben?tsss Ich stell mich nie in Haufen,komme durch jede masse durch und wunder mich immer warum die kleinen feststecken. Und ja ich bin pendler und ja ich mach sogar frau mit kinderwagen platz, biete alten menschen den platz an und helf frauen den koffer hochzulegen. Alles machbar!
Viel schlimmer am Bahnfahren sind die Menschen die man nicht anfassen will oder dort sitzen will wo sie gesessesn haben
13.12.06, 13:23 Uhr #11 von Fluechtig
also.. ich bin auch ne Zeit von Mannheim aus gependelt... im Sommer nach Stuttgart. Ich fand das gar nicht so schlimm... mit einem charmanten Lächeln, dem leicht schief gelegtem Kopf und und einem unschuldigen Blick von unten nach oben bekam ich zu mindestens 85% der zeit einen platz... gewusst wie.. *fg*
13.12.06, 19:04 Uhr #12 von karlmoik
super kolumne.. blieb mir zum glück erspart.. ein grund dafür, doch mit der eigenen karre zu fahren.. wobei ich aus eigener erfahrung weiss, dieses gerammel beim einsteigen ist wesentlich entspannter als im feierabendverkehr zu stehen oder auch so wesentlich länger mit dem auto zu brauchen..
13.12.06, 19:58 Uhr #13 von eeeehh
ohja! wie wahr das doch ist!! jeden morgen dasselbe gerangel!! ich kenne es leider nur zu gut.

lieber mit der oeg fahren? oh gott! das hab ich auch eine weile versucht! aber dieselbe situation nur dass die oeg nie zu dem zeitpunkt anrollt wo sie anrollen sollte...
14.12.06, 12:04 Uhr #14 von Selbstfinder
Na ja, es ist ja nicht so, dass die Züge der Bahn sonderlich pünktlich wären
14.12.06, 20:25 Uhr #15 von BenKling3
Selbstfinder Sehr geile Kolumne, bin beeindruckt, haste gemacht.
Ich gehöre zwar zu denen die Dir das jetzt mal alles so glauben müssen, aber eins kann ich Dir sagen, da fahr ich lieber mit meinem Dreirad Naja außer wenn, wie letzten Do geschehen mir einer drauffährt 1200,-€ Schaden, ich überleg mir nochmal was mir da lieber ist
16.12.06, 15:05 Uhr #16 von HumphreY
Haha, geil! Das ist mein Alltag, was da beschrieben wird

Bei S-Bahn nach Walldorf wird aber immer ein Zugteil in Mannheim noch angehängt. Da ist es schon ein Kunst die Tür in der richtigen Position zu erwischen, weil die "Einheit" noch paar Meter vorwärtskriecht. Das wissen aber nur erfahrene Pendler, weswegen die sich auch schon mal vorher seitlich in Bewegrichtung positionieren. Und im Sommer bei Sonnigem Wetter nie auf die Linke Seite setzen, da wird man schon gebrutzelt.

Ach, Pendeln ist halt 'ne Kunst
16.12.06, 17:11 Uhr #17 von jnor
S-Bahn. 3 Stunden 40 Minuten Gesamtfahrzeit - fast Fernverkehr. Daher haben sie selbstvertaendlich Sitze fuer auf unserem Planeten noch nicht aufgetretenen Koerperbau eingebaut. NVH-Abteilung gibt es bei Siemens,Adtranz oder DWA nicht. 200 Sitzplaetze auf einer Strecke, die schon zu moderaten Benzinpreiszeiten bei ueber 500 Plaetzen in Doppelstockzuegen ausgelastet war. Und dann die tollen Werbeschilder: "Kommen Sie auf den S-Bahn Geschmack!" (das Deppenleerzeichen habe ich mitzitiert).
Dieser Eintrag wurde 1 mal editiert, zuletzt 16.12.06, 17:11 Uhr
16.03.07, 14:30 Uhr #18 von Goa
Diesen Text kann nur jmd verstehen, der Mannheim-FFM mitm ICE pendelt.
5Punkte!
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